Core Values (German)

Grundwerte der Geistes- und Naturwissenschaften

I

Der grundlegende und historische Zweck der freien Künste (artes liberales) besteht zugleich darin, uns zu lehren, für uns selbst zu denken, in der Welt vernünftigerweise und gut zu handeln sowie Berufe aufzunehmen, die uns selbst und anderen nützlich sind. Der Bildungsumfang der freien Künste will uns schließlich das Leid und die Freude des menschlichen Zustandes offen legen, unsere persönliche Vollständigkeit ernähren, so dass Mitleid für und Rücksicht auf unsere Mitmenschen, deren Leben wir in unseren eigenen Gemeinschaften und rund um die Welt teilen, in uns entwickeln.
Die Ausbildung in den freien Künsten beruht auf einem Paradox: für sich selbst folgerichtig zu denken bedeutet zunächst, den Gedanken von anderen sorgfältig zuzuhören. Die freien Künste drängen uns, uns durch das Bewusstsein von anderen zu kultivieren: Besondere Aufmerksamkeit auf ihre Ideen und Tätigkeiten hilft uns, unsere eigene zu verfeinern.
Die Ausbildung in den freien Künsten ist pluralistisch. Sie besteht aus vielen Stimmen: Jede der Zeit und dem Ort passend, einige widersprechend, keine absolut. Sie sucht, in uns einen Geist zu entwickeln, der beurteilt, welche Fähigkeiten zu welchen Zeitpunkten angebracht sind. Die Ausbildung in den freien Künsten ist unermüdlich. Sie nimmt nichts als erwiesen an. Ihre charakteristische Tätigkeit ist nicht unkritische Bewilligung sondern kritisches Urteil. Sie prüft heilige Wahrheiten jeder Art.
Die freien Künste entwickeln nicht nur kritische sondern auch kreative Fähigkeiten, nicht nur rationale Analyse sondern auch den kreativen Ausdruck. Sie suchen, die Fülle der menschlichen Beschaffenheit zu entwickeln und zu entfalten. Ihre Übung zielt außerdem auf das Vorbereiten der Studierenden, sich weiterzubilden, lange nachdem die formale Bildung zu Ende kommt. Die Ausbildung in den freien Künsten hat die Absicht, die Studierenden für allgemeine Verantwortlichkeit nicht bloß den Eigennutz auszubilden.
Die Ausbildung in den freien Künsten besteht sowie aus der Reise als auch aus dem Endziel. Sie nimmt so viel Freude an den flüchtigen und minutiösen Seltsamkeiten des Lernens wie an der Erfüllung der fernen Ziele. Sie gleicht den Begehren, etwas zu wissen, mit Einfühlungsvermögen und Stauen aus.

II

Das lateinische Wort „ars“ bedeutet zugleich Fähigkeit, Wissen und Praxis. Eine Ausbildung in den freien Künsten fängt mit den Fähigkeiten der Sprache und des Denkens an.
Sie lehrt uns, gut zu lesen und zu hören; eindeutige und prägnante Prosa zu schreiben; privat im Gespräch, öffentlich in Diskussionen und formell in Reden zu sprechen; das Publikum zu beurteilen und die eigenen Worte aus der Perspektive von anderen zu betrachten; die Worte und Gedanken von anderen passend zu zitieren und in die eigene Arbeit zu integrieren; dazu alle diese Aufgaben leidlich gut in Fremdsprachen und in den Weltanschauungen von anderen zu tun.
Sie lehrt uns, einen Fall oder eine Hypothese oder ein Argument darzulegen; die Strenge anderer Argumente auszuwerten; Informationen in Bibliotheken, im Internet und aus anderen Quellen zu finden und zu beurteilen. Sie bringt uns Methoden des Ermittelns von Wahrheit und Unwahrheit bei, Einfallsreichtum geeignet zum moralischen und ästhetischen Urteil sowie Methoden der logischen, experimentellen, wissenschaftlichen, mathematischen und statistischen Argumentation.
Diese Fähigkeiten erlauben uns, die zunehmend schwierigen und herausfordernden Probleme anzupacken und zu lösen, Quellen der Vorurteile und Mittel deren Überwindung zu schätzen sowie Argumente aus widersprechenden Weltanschauungen zu unterhalten. Sie entwickeln in uns den Sinn der Spitzfindigkeit, der Tiefe und der Vielschichtigkeit.

III

Die Ausbildung in den freien Künsten betrachtet die Kultivierung dieser Fähigkeiten nicht nur als Selbstzweck sondern auch als Vorbereitung auf das Streben nach Wissen und anderen Zwecken des menschlichen Lebens. Das chinesische „Buch der Wandlungen“ (I Ging) verkörpert eine grundlegende Qualität der Ausbildung in den freien Künsten, wenn es darauf andeutet, dass Wissen und Praxis nicht beherrscht werden können, bis sie aus verschiedenen Perspektiven betrachtet worden sind.
Als Studierende der freien Künste kultivieren wir so gründlich wie möglich das Vermächtnis des menschlichen Denkens, der Vorstellungskraft, der Kreativität und der Forschung; wir beobachten Natur; wir konfrontieren und werten wichtige Theorien aus, die unser Verständnis der Welt prägen; wir stellen fest, wie unsere eigene Gesellschaft sowie die Gesellschaften von anderen funktionieren und verbessert werden können; wir wiegen die Kosten und den Nutzen des modernen menschlichen Lebens zur Einzelperson und zum Planeten ab; wir suchen, die Quellen des menschlichen Hasses und Konflikts zu begreifen und zu verringern; wir zielen darauf ab, zu verstehen und zu verstärken, was menschliche Mitarbeit anspornt; wir erforschen die Funktionen des menschlichen Verstandes und des Körpers; wir entwirren Behauptungen der Lehrer, Politiker, Inserenten, Wissenschaftler, Prediger, Journalisten und Mitbewohner; wir überlegen die Geschichte von den frühesten Epochen zur aktuellsten Gegenwart; wir forschen den Mechanismus des Kosmos vom Atom zu den Sternen nach; wir vertiefen uns in die früheren Erfahrungen unserer und anderer Gesellschaften sowie in die gegenwärtigen Nachrichten; wir machen uns Mühe, in der Kultur von anderen zu Hause zu fühlen; wir helfen anderen, sich in unserer Kultur zu Hause zu fühlen; wir sehen die Wechselwirkung zwischen unseren Überzeugungen über die natürliche Welt und unseren Überzeugungen über Religion, Politik und Kultur; wir spüren einen Zweck auf; wir denken über die Bedeutung des Lebens nach; wir forschen das menschliche Herz nach; wir wiegen Gewissenhaftigkeit ab; wir entdecken die Schleife der lebendigen Systeme von Mikroben zu Biomen; wir erlernen, uns in einer moralischen Welt zu bewähren, die weder schwarz noch weiß ist; wir engagieren uns in einer vorsichtigen Suche nach Wahrheit; wir kennen die Art und Weise des Geldes und die Natur der Arbeit; wir ringen mit Ideen über Gott; wir ergründen die Wechselwirkungen zwischen Technologie und menschlichem Leben; wir erziehen Kinder, unsere eigenen und die von anderen; wir betrachten das Wohl künftiger Generationen; wir schätzen die Schönheit und den Nutzen von Mathematik; wir schmieden Vereinbarungen mit Geliebten, Freunden und Feinden; wir beteiligen uns an den Prinzipien, den Zwecken und der Praxis des öffentlichen Lebens.
Als Studierende der freien Künste übernehmen wir diese Aufgabe als Glied einer Gemeinschaft mit ehrwürdigen Wurzeln; eine Gemeinschaft, die sich noch im Raum und in der Zeit entwickelt; eine Gemeinschaft des Denkens, der Vorstellungskraft, des Wertes, der Arbeit und der Tätigkeit.
Übernommen vom College of Liberal Arts and Sciences am 21. März 2007.

Übersetzt von Dr. Matthew Lange